Montag, 15. September 2008

Gott in Frankreich

Als ein Götzen verehrender Heide muss ich mich kurz zu Wort melden.

Es spricht einiges dafür, sich nicht allein von der Gier nach Geld, Macht und Wissen leiten zu lassen. Anderseits hat es auch durchaus Vorteile nicht arm, hilfslos und dumm zu sein.

Wer das gesunde Bedürfnis verspürt, aus dem trivialen Alltag auzubrechen, und sich auf Sinnsuche zu begeben, aber zu faul oder zu feige ist, sich den Anstrengungen und unschmeichelhaften Einblicken der Selbsterkenntnis auszusetzen, für den ist ein vorgefertigtes spirituelles Glaubensgebäude ideal. Und auf dem Markt besitzen Religionen Monopolstellung. Die Nachfrage könnte problemlos von säkularen Stellen bedient werden, wenn es sie gäbe und sie dort, wo es sie gibt, nicht noch schlechter, auf keinen Fall aber viel besser, als geistliche Angebote, ausfielen. Nicht weiter schlimm. Religiöse Institutionen sind als Einstieg nicht total mies, solange sie nicht zum Endpunkt werden, sondern man den Absprung rechtzeitig wagt. Es geht schließlich darum, sich selbst zu Entdecken, nicht die Meinung einer 81-jährigen verknitterten Jungfrau.

Wenn man will, kann man aus der Kirche viel mitnehmen, für sich und die Menschheit, das es wert ist, aus dem Schraubstock des Dogmas gerettet zu werden. Es steckt viel Schönes im Glauben - Kunst, Architektur, Poesie, Musik - das die menschliche Seele zutiefst berührt und zu ihr spricht. Und für sie spricht! Für die Kraft und Weisheit und Empfindsamkeit unseres gemeinsamen Wesens. Und wir benötigen diesen Teil, der für das Beste in uns Partei ergreift, als Gegenstimme zu den Gräueln und Verbrechen der Spezies, die das Schlechte in uns bezeugen. Dieses Schöne muss in unseren Herzen überdauern, oder es ergibt keinen Sinn, irgendetwas anderes, das wir erbauen, zu bewahren.

Gut möglich, dass die trauernde Mutter ein Recht auf Trost besitzt so wie das todkranke Kind ein Recht auf Hoffnung, ganz gleich ob wahr oder falsch, und dass diesesAnrecht das Recht eines anderen Menschen, es ihnen zu nehmen bei weitem übersteigt.

Menschen sollen trauern. Menschen sollen beten. Behaltet all die guten Dinge bei. Aber kettet sie nicht mit Handschellen an nutzlose Dogmen. Sagt einer von Leid zerrissenen Familie, die ihren Vater, Ehemann, Sohn, Bruder und Freund auf rituelle Art bestatten möchte, um bedeutungsvoll Abschied zu nehmen und mit der Heilung zu beginnen, sagt ihr nicht, dass sie gleichzeitig auch die Lehre von der unbefleckten Empfängnis zu akzeptieren habe und dass Kondome Sünde seien. Das ist schäbig, scheußlich, unmenschlich und ein Frevel.

Tatsächlich ist das die Richtung, in der sich Katholiken bewegen. Und der Grund, warum der Papst sich aufregt. Seine Feinde sind nicht gottlose Heiden, die er von den fremden Götzen sowieso nicht mehr losreißen wird. Seine Feinde sind die Gläubigen, die sich aus 2000 Jahren Kirchentradition ganz undogmatisch nur die für sie nützlichen Punkte herauspicken. Das, was sie zum Leben brauchen, ohne den ganzen Ballast drumherum. Es ist ein Kampf, den alle Religionen in einer aufgeklärten Gesellschaft durchleben, und es ist für die Kirche ein aussichtsloser Kampf: Die Demokratisierung des Glaubens gegen den Alleinherrschaftsanspruch der Autorität. Pluralismus gegen Papst.

In dieser Hinsicht sind weichgespülte Kirchgänger der goldenen Mitte näher als radikale Atheisten, auch wenn beide letzten Endes nach der gleichen Balance streben. Der Feelgood Gläubige legt nutzlose, überholte Lehren nach und nach ab, und konzentriert sich auf das für ihn Wesentliche, wenngleich er immer noch anfällig dafür ist, die Wichtigkeiten zu verwechseln, zum Beispiel Moralpredigten anstelle von Meditation. Der reaktionäre Atheist andererseits hat das Jesus-Baby mit dem Badeweihwasser ausgeschüttet, indem er schädliche Dogmen nicht von hilfreichen Ritualen, Feierlichkeiten und Wundersamen unterschied. Der Weg zurück in ein von Schönheit und Andacht und Hoffnung erfülltes Leben mag für ihn schwieriger sein als für den religiösen Menschen, der nach und nach den Glauben an Gott verliert und einen Glauben an sich selbst, seine Mitmenschen und die Welt findet.

Die bessere Predigt, hätte Ratzinger gewollt, dass die Menschen sich fühlen wie Gott in Frankreich oder wie im Himmel auf Erden, müsste viel kürzer so lauten:

Du entscheidest frei, was dir im Leben wertvoll ist. Und mir gestehst du das Recht zu, das gleiche ganz allein für mich zu entscheiden.

Amen.