Mittwoch, 4. November 2009

Wie Mitleid, nicht Sensationssucht, uns zu Gaffern macht

Sogar in der, nach den Maßstaben meines eigenen Lebens gemessen, beschissenesten Woche seit langer Zeit kommt, wie scheinbar zu allen beschissenen Zeiten, der unvermeidliche Zeigefinger, dass es viel schlimmer sein könnte, wie etwa in Form eines Fußgängers, der von einem Auto überfahren wird, während du in der Straßenbahn sitzt und hilflos bist, etwas zu unternehmen außer das Handy zu zücken, was glücklicherweise viele mehr taten, so dass als ich eine Station später an meiner Haltestelle ausstieg und nach Hause lief hinter mir die Sirenen schrillten.

Und ich kenne die Stelle, an der der leblose Leib auf das Asphalt klatschte (den Zusammenstoß sah ich nicht, es war das Geräusch das meinen Blick herum riss). Ich bin dort über die Kreuzung gegangen. Mir sind dort zweimal, bei grünem Licht, Autos in vollem Tempo an der Nasenspitze vorbei gerast gerade als ich dabei war, den Fuß auf das Straßenpflaster zu setzen. In dieser Stadt wirst du überfahren wenn du über die Straße gehst nur weil die Ampel zufällig Grün zeigt.

Es ist ein zwiespältiges Gefühl. Vor heute habe ich die Menschentrauben, die sich um Unfallorte versammeln, nur als Gaffer verstanden. Derzeit bin ich weniger hastig mit dem Urteil. Etwas anderes ist im Spiel. Selbst als die Straßenbahn mich wie unter Zwang von dem überfahrenem Menschen weg trug, kehrten mein Blick und mein ganzer Körper sich immer wieder rückwärts, zutiefst wiederstrebend einen Verletzten zu verlassen, obwohl ich wusste, dass ich ihm nicht helfen konnte, und als wie kämpften in meinem Innersten das Pflichtgefühl einem Mitmenschen - dem Verletzten, seinen Begleitern, den Helfern - Solidärität zu zeigen gegen die Scheu das Leid eines Anderen durch meine Augen der Würde zu entkleiden.